DER KLEINE ENGEL

Ich hatte sie schon ganz vergessen, meine kleine Weihnachtsgeschichte „Der kleine Engel“, die ich 2003 als Kolumne für unseren Verein 46PLUS geschrieben hatte. Letzten Advent kam ganz überraschend die Firma Schuchmann mit der Bitte auf mich zu, meine kleine Weihnachtsgeschichte auf ihrer Seite veröffentlichen zu dürfen. Ich war davon ganz begeistert und dass sie davon sogar eine Audio-Version erstellt haben, die Ihr Euch HIER gerne anhören könnt.

Es war einmal ein kleiner Engel, der war im ganzen Himmelreich bekannt und beliebt. Es gab praktisch keine Wolke, auf der man nicht von ihm wusste. Der kleine Engel war fast immer vergnügt und versprühte überall seine gute Laune. Andere Engel, denen es gerade einmal nicht gut ging, brachte der kleine Engel schnell auf andere Gedanken. Wenn er besonders gut gelaunt war, konnte der kleine Engel ein richtiger Komiker sein, der nur Blödsinn im Kopf hatte. Und ehrlich gesagt, das war ziemlich oft der Fall. Seine umwerfende Fröhlichkeit und Lebenslust waren einfach nicht zu bremsen.

Daneben war der kleine Engel auch ein rechter Tollpatsch. An manchen Tagen schien es fast so, als hätte er zwei linke Hände und an beiden zwei linke Daumen. Aber das nahm dem kleinen Engel niemand krumm. Im Gegenteil: Der kleine Engel versprühte so viel Charme und Herzlichkeit, dass er mit seinen schelmischen Augen jeden sofort verzaubern konnte.

Das alles machte den kleinen Engel ziemlich einzigartig. Und so sahen es ihm die anderen Engel auch nach, dass er bei anderen – in der Engelszunft „viel wichtigeren“ Geschäften – nicht der Schnellste war.

Aber daran hatten sich alle mit der Zeit gewöhnt. Es war einfach schon immer so gewesen. Nie hatte es der kleine Engel mit irgendetwas wirklich eilig gehabt. Als andere Engel schon die ersten Flugversuche machten, lag der kleine Engel immer noch auf dem Bauch. Er lernte erst eine ganze Weile später fliegen – aber er lernte es. Und so machte es der kleine Engel mit den meisten Sachen. Und manche Dinge, die ihm entweder zu schwierig oder auch einfach zu langweilig waren, die ließ der kleine Engel halt bleiben.

Eines Tages wurde der kleine Engel zum lieben Gott gerufen, also zum Chef höchstpersönlich. Da bekam es der kleine Engel mit der Angst zu tun. Was könnte der liebe Gott von ihm wollen? Er musste wohl Wind von einem seiner Streiche bekommen haben.

Vielleicht hatte sich der Trompetenengel beschwert, weil der kleine Engel ihm seine Flügel rot angemalt hatte, als er schlief. Aber rot sahen die nun mal viel besser aus. Und zur Trompete passten sie so auch am besten. Der kleine Engel konnte ja nicht wissen, dass dem Trompetenengel rot nicht recht gefiel. Und auch nicht, dass ihn die Flügelreinigung Stunden kostete. Der kleine Engel hatte es ja nur gut gemeint. War es diese Sache?

Oder die Sache mit der blonden Locke, die er einem hübschen Oberengel abgeschnitten hatte? Oder das mit der Harfe, die er sich einmal unerlaubt ein bisschen ausgeliehen hatte und neu stimmen wollte. Oh je, dem kleinen Engel fielen plötzlich ziemlich viele Sachen ein, die ihm den Termin beim großen Boss eingebrockt haben könnten. Aber es half ja alles nichts. Und so machte sich der kleine Engel – ausnahmsweise noch ein wenig kleiner – auf zum lieben Gott.

Der liebe Gott war gerade in einem Meeting und zwar mit dem Weihnachtsmann und dem Christkind. Alle drei machten ein ernstes, ratloses Gesicht und waren schwer am Grübeln. Das Christkind seufzte: „Es wird immer schwieriger, die Erdenkinder mit einem schönen Geschenk glücklich zu machen.“

„Richtig!“ pflichtete der Weihnachtsmann bei, „die haben doch längst alles. Ganz egal was ich bringe, ein paar Minuten und aller Zauber ist verflogen. Und immer öfter gefallen ihnen meine Geschenke gar nicht mehr. Die werden immer unzufriedener.“

„Ach Ihr Lieben, das weiß ich doch auch“, erwiderte der liebe Gott, „ich beobachte das schon eine ganze Weile. Mit dem Herzen sieht heute kaum noch einer. Dafür wird umso mehr auf Äußerlichkeiten geachtet – und auf das ein oder andere Statussymbol: das schnellste Auto, das größte Haus, der tollste Urlaub, das meiste Geld. Das Zweitbeste ist meistens schon nicht mehr gut genug“, sinnierte er.

„Genauso ist es“, meinte das Christkind. „Aber das ist noch nicht mal alles.“ Die fragenden Blicke des lieben Gott und vom Weihnachtsmann bemerkend erläuterte das Christkind das ganze Dilemma. „Das Schlimmste ist, dass die Erdenkinder genauso überzogene Ansprüche an sich selbst und an ihre Liebsten stellen. Auch da muss alles wie aus dem Bilderbuch sein. Und wenn nur ein kleines Mosaiksteinchen fehlt, dann ist das Geschrei groß.“

„Ach ja“, sagte der liebe Gott, „mit meinen Erdenkindern ist das wirklich nicht einfach. Ich kann Euch da verstehen. Aber sie haben sich halt einfach allesamt zu sehr selbst unter Druck gesetzt. Und jetzt fangen sie leider an, an diesem Druck zu zerbrechen. Nach außen hin geht es ihnen blendend, alles ist bestens. Aber tief im Innern sind viele einfach nur unglücklich und haben Angst.“

„Aber können die Menschen denn nicht lernen, dass es unendlich mehr im Leben gibt als Intelligenz, Schönheit und Perfektion und dass nicht alles in Geld gemessen werden kann?“, fragte das Christkind. „Sie müssen wieder lernen, mit dem Herzen zu sehen.“

„Du hast ja Recht“, sagte der liebe Gott, „aber was soll ich machen? Ich habe schon einige Botschaften nach unten geschickt. Aber haften ist nicht viel geblieben.“

Erst jetzt nahmen sie den kleinen Engel wahr, der ganz verstohlen neben der Türe stand. Sofort erstrahlten ihre Gesichter und der liebe Gott streckte seine Arme nach ihm aus: „Komm her, du kleiner Engel, ich glaube, wir haben da eine kleine Mission für Dich.“ Stolz wie Oskar strahlte der Engel übers ganze Gesicht: „Für mich?“ Dann fügte er aber gleich in einem etwas nachdenklicherem Ton hinzu: „Aber ich bin doch immer der Langsamste? Sogar auf die Engelsschule durfte ich lange nicht. Ich kann nicht viel, sagt man.“

„Du bist dafür genau der Richtige“, erklärte der liebe Gott. „Mit Deinem Lächeln und Deinem unwiderstehlichen Charme wirst Du eine Helligkeit und eine Wärme in die Herzen der Menschen zaubern, wie es sonst nur die Sonne kann.“

„Wenn Ihr meint“, sagte der kleine Engel. Ein wenig mulmig war ihm schon zumute. Was ihn wohl alles erwarten würde. Aber gut, warum auch nicht. Er streckte die Flügel aus, sah sich nochmals kurz um und flog los.

„Ach übrigens“, der kleine Engel hörte den lieben Gott kaum noch, so schnell war er unterwegs, „bleib’ bitte maximal ein Leben – du wirst auch hier oben gebraucht“ rief ihm der liebe Gott nach. „Geht klar!“ rief der kleine Engel zurück.

Wenn ich nur mehr von der Sorte hätte, dachte der liebe Gott. Und lächelte.

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